Arzt kämpft für grünere Pausenplätze

 

Artikel im Tagblatt, 22. Juni 2020

Quelle: Tagblatt St. Gallen, Nik Roth

Quelle: Tagblatt St. Gallen, Nik Roth

Die Kinder würden immer dicker, kurzsichtiger und ungeschickter, sagt der pensionierte Kinderarzt Markus Weissert. Er will ihnen helfen.

St. Galler Tagblatt, Melissa Müller

Abends lauscht Markus Weissert einer Amsel. Sie singt auf dem Wipfel einer Erle in seinem Garten in Oberhofstetten. Dann freut er sich. Diesen Moment wahrzunehmen, erfordere Zeit. Und die Bereitschaft, sich berühren zu lassen. «Eine Bereitschaft, die heutzutage vielen Kindern fehlt», sagt der pensionierte Kinderarzt. Der St.Galler hat die Neuropädiatrie am Kinderspital St.Gallen aufgebaut, 30 Jahre lang. Er war auf die Nervenleiden von Kindern spezialisiert. Im Laufe seiner Tätigkeit fiel ihm auf, dass die Kinder immer übergewichtiger, kurzsichtiger und ungeschickter wurden. Er beobachtete, dass es ihnen schwerfiel, einen Stift in der Hand zu halten, eine Wurst zu braten oder über einen Baumstamm zu balancieren. Oft müssten sie sich diese motorischen Fähigkeiten mühsam in Therapien aneignen.

«Kinder machen zu wenige Sinneserfahrungen und verbringen zu viel Zeit drinnen», stellt der Neurologe fest. «Bevor man ihnen ein Smartphone in die Hand drückt, sollten sie reelle Erfahrungen machen.» Das gehe nirgendwo so gut wie in der Natur, wo man den Duft einer Rose einatmen oder auf einen Baum klettern kann. Barfuss durch einen Waldbach waten. Dabei die Fliessgeschwindigkeit des Wassers, das feuchte Moos, den lehmigen Boden spüren. «Solche Impulse sind elementar fürs Kind, vor allem in der sensomotorischen Phase in den ersten Lebensjahren», sagt der Arzt. Stimmungen, Berührungen, Gerüche, das alles präge sich ein. «Es ist genauso wichtig wie das Erlernen der Muttersprache.» Dabei bildeten sich die entscheidenden Vernetzungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn, sogenannte Synapsen.

Vom langweiligen Rasen zum Insektenparadies

Weissert pflückt eine Rose in seinem Garten im Riethüsli. Libellen schwirren über einem Biotop. Spezielle Bäume wachsen da, wie ein Zimtahorn. «Als wir hier einzogen vor dreissig Jahren, war da nichts als Rasen», sagt der Hobbygärtner. Jetzt ist es ein Paradies für Vögel und Insekten.

Markus Weissert beobachtet am Biotop, wie Libellen aus ihren Puppen schlüpfen. Wann immer er auf Reisen oder Ärztekongressen war, besuchte er botanische Gärten und holte sich Inspiration.Bild: St. Galler Tagblatt, Nik Roth

Markus Weissert beobachtet am Biotop, wie Libellen aus ihren Puppen schlüpfen. Wann immer er auf Reisen oder Ärztekongressen war, besuchte er botanische Gärten und holte sich Inspiration.

Bild: St. Galler Tagblatt, Nik Roth

Nun will der agile 73-Jährige auch die Pausenplätze der Stadt St.Gallen zum Blühen bringen. Weissert gehört zu den Triebkräften hinter dem WWF-Projekt «Biodiversität macht Schule». Der WWF sucht «grüne Schulhäuser und Kindergärten». Die Schulen mit den vielfältigsten Umgebungen werden mit einer Plakette prämiert. «Wir wollen die Leistungen von Schulen, die ihre Umgebung naturnah gestalten, anerkennen und damit andere zur Nachahmung motivieren», sagt der Naturschützer. Denn Grünflächen seien zentral für die Entwicklung und Gesundheit der Kinder. «Leider befassen sich noch nicht so viele Mediziner mit der Biodiversität und ihrer positiven Auswirkung auf die Gesundheit und Psyche – ausser die Lungenärzte», sagt Weissert.

Weniger Kriminalität in grünen Quartieren

Kinder seien in grünen Umgebungen ruhiger, aufmerksamer. Es gebe draussen in der Natur weniger Gerangel. Weissert zitiert eine Studie aus Chicago, wonach es in grüneren Stadtquartieren weniger Kriminalität gibt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «Grünraumgerechtigkeit». Je privilegierter die Menschen, desto mehr Grünflächen hätten sie. Das ist auch in St.Gallen so: Die Kinder in Rotmonten und Oberhofstetten wachsen in üppigen Gärten auf. Viele werden im Waldkindergarten gefördert, den sich fast nur Begüterte leisten können. Die Kinder in St.Fiden hingegen leben in einem Quartier, das von SBB und Hauptstrassen zerschnitten wird. Grünflächen sind hier Mangelware. Darum setzt sich Weissert mit anderen Mitstreitern für das Areal Bach ein, eine Grünfläche. «Es ist meine Berufung, dass ich das den Kindern verschaffen will, was ihnen gefehlt hat», sagt er

Ein Pausenplatz wie im Sozialismus

Ein guter Anfang, um allen Kindern die Natur zugänglicher zu machen, seien die Schulhöfe. Doch es gebe noch zu viele asphaltierte Flächen. Ein abschreckendes Beispiel befindet sich im Riethüsli: Der östliche Pausenplatz ist versiegelt, erhitzt sich im Sommer. Schattenplätze fehlen. Umrahmt wird der Platz von einer Hecke aus Kirschlorbeer. «Das ist ein invasiver Neophyt und gehört verbrannt», sagt der Naturschützer. Die Amseln würden die Beeren des Strauchs fressen und mit dem Kot überall im Wald verbreiten – wo er nicht hingehört. «Im Berneggwald, rund um die Gewerbeschule, hat sich der Kirschlorbeer schon breitgemacht.» Er schlage tiefe Wurzeln, die man fast nicht mehr wegbekommt. Neben dem Pausenplatz steht ein Insektenhotel. «Das ist ein Witz», sagt Weissert. «Hier gibt es weit und breit kein Futter für Insekten.»»

Beeren und Blumen statt Asphalt

Weissert hat hundert Ideen, wie der Pausenplatz aufzuwerten wäre: Mit Holzstämmen zum Draufsitzen und Hecken mit Nischen am Rand, in die sich Kinder zurückziehen könnten. Mit einem Brunnen und einem Wasserspiel. Mit einem Spielbereich mit Basketballkörben. Einem Begegnungsbereich mit ein paar Blütensträuchern wie Holunder und Johannisbeeren, «da könnten die Kinder auch noch etwas ernten». Mit einer saisonalen Blumenbepflanzung: Tulpen und Osterglocken im Frühling, Ringelblumen und Salbei im Sommer. Und dann könnte man noch einen Nistkasten aufhängen bei der alten Eiche, um junge Vögel zu beobachten. «Schön für die Kinder wäre auch, wenn man Hühner halten und einen Schulgarten anlegen würde», sagt Weissert. Doch im Riethüsli ergibt die Neugestaltung ohnehin keinen Sinn: Die Anlage wird in zwei Jahren abgebrochen.

Verbesserungsbedarf gebe es aber noch bei einigen Schulanlagen. Das Schulhaus Buchental etwa sei nicht optimal. Das Schulhaus Hof in Winkeln hingegen sei ein Vorzeigeprojekt in Sachen naturnaher Gestaltung; es befindet sich unterhalb des Gübsensees. Auch das Schulhaus Oberzil hinter dem botanischen Garten und das Schulhaus Rotmonten verfügen über prächtige Grünanlagen. Weissert sagt: «Meine Vision ist, dass der Schulhausplatz ein Begegnungsort wird, der nach Schulschluss ab 16 Uhr nicht einfach tot ist.»